Klassentreffen der Welt: Indien
Vorm Spiegel zieht Ajeet Bhatia einen ordentlichen Scheitel in die schwarzen Haare, dann zwängt er sich noch einmal in seine alte Schuluniform. Dass er der Einladung zu seinem Klassentreffen folgen wird, steht für ihn nicht in Frage. Der Geschäftsmann aus Raipur, einer Millionenmetropole im Nordosten, erinnert sich, dass er ein Schüler war, der "ziemlich viel Unsinn im Kopf hatte und die Lehrer wahnsinnig machte". Seine Lehrer waren Patres, Bhatia hat die Holy Cross School besucht. Missionsschulen waren für Kinder aus den unteren Kasten oft der einzige Weg zu sozialem Aufstieg und solidem Auskommen. Und noch heute ist Schule in Indien nicht gleich Schule.
Lehrer werden schlecht bezahlt
Ein Viertel der Inder gaben 2011 an, dass sie weder lesen noch schreiben können. Im Vergleich zu den Zahlen zehn Jahre zuvor ist das eine gute Nachricht. Damals lag die Alphabetisierungsrate im Landesdurchschnitt noch bei 64,8 Prozent. Wer eine Schule besuchen kann, war lange eine Frage der Kaste. Immerhin erhob 2005 ein Gesetz den Zugang zu kostenloser Bildung zu einem Grundrecht für jedes Kind im Alter von 6 bis 14 Jahren. Doch die Klassen sind groß und Lehrer werden auf dem Land schlecht bezahlt. Sie lassen regelmäßig den Unterricht ausfallen, um Nebenjobs nachzugehen. Handyfotos mit Datumsstempel sollen jetzt mancherorts die Anwesenheit der Lehrkraft dokumentieren.
Unterricht in Uniform
Die christlichen Patres in Raipur haben kaum eine Stunde ausfallen lassen. Und sie waren streng. Heute lächelt Pater D'Souza milde. Ajeeth Bhatia grüßt ihn respektvoll mit "Namaskar" und vor der Stirn zusammengelegten Händen. Die ehemaligen Mitschülerinnen erscheinen nicht im Röckchen der Schuluniform sondern im Sari. Aber auch sie finden die Idee großartig, einen Schultag nachzustellen. Der Bollywood-Film "Paathshala" hat sie inspiriert. Gemeinsam stimmen die Mittdreißiger "Jana Gana Mana" an, die indische Nationalhymne, die morgens auf Schulhöfen im ganzen Land ertönt. Auch eine Bestrafung wird nachgespielt, dafür kniet Aveenash Sundrani vor seiner Klasse nieder, kann sich aber das Grinsen nicht verkneifen.
Bildung für Benachteiligte per Quote
Prügelstrafen sind inzwischen ebenso verboten wie die Benachteiligung der niederen Kasten, etwa der Angehörigen der Scheduled Castes, die früher "Unberührbare" hießen. Die unteren Bevölkerungsschichten werden in Indien per Gesetz durch Quoten gefördert. Ihnen werden an Universitäten, berufsbildenden Institutionen und Parlamenten etwa 20 bis 50 Prozent der Plätze reserviert. Doch bis dahin muss man es erst einmal schaffen. Trotz der gestiegenen Einschulungsraten brechen viele der Armen die Schule vorzeitig ab. Und der Neid auf die Quotierten führt immer wieder zu Ausschreitungen. Die Größe des Landes und die allgegenwärtige Korruption erschweren es, die Einhaltung der gesetzlichen Garantien zu überprüfen. Doch die Entwicklung ist unübersehbar.
Den Aufstieg geschafft
Ajeeth Bhatia hat die blaue Unform inzwischen gegen ein edles Jackett getauscht. Auf dem weißen Schülerhemd haben seine Klassenkameraden unterschrieben und gute Wünsche hinterlassen, als Andenken an diesen besonderen Tag. Auch Pater D'Souza ist stolz: "Es fühlt sich großartig an, wenn ich sehe, dass einige meiner unartigsten Schüler erfolgreiche Unternehmer geworden sind. Besonders wenn sie aus kleinen Verhältnissen stammen. Was für ein glücklicher Augenblick." Ajeeth Bhatia wiegt zustimmend seinen Kopf hin und her. Er umarmt seine Schulfreunde zum Abschied.